Montag, 17. April 2017

Erdowahn: Welche Antworten hat Europa?

Das Referendum in der Türkei macht Sorgen – nicht nur um die Türkei. Aus demokratischer Sicht ist ihre Krise nicht neu. Sie ersetzte den Machtmissbrauch des Militärs lediglich durch den der AKP. Aus völkisch-religiöser Sicht befindet sie sich hingegen im Aufschwung. Die Wahrheit der Einen sind die Fake News der Anderen.
Was kann das demokratische Europa machen? Egal welche Gebärden der Korpus der EU in seinen unterschiedlichen institutionellen Gestalten auszudrücken versuchte, es war den Diktaturen des Ostens relativ egal. Putin, Erdogan oder Orbán machen weiter wie sie wollen – in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Entweder weil sie wissen, dass auf jede Peitsche gleich das Zuckerbrot folgt. Oder weil sich die Europäische Union immer noch im Stimmbruch befindet.


@Wikicommons/Nub Cake


Allem Anfang wohnt Selbstfindung inne

Pubertät bedeutet auch Selbstfindung. Die relativ junge EU ist auf dem Weg herauszufinden, was sie eigentlich sein will oder soll – und wer diesen Willen und dieses Sollen letztlich bestimmen will und soll. Angeblich 71% der in Österreich für die Türkei wählenden Türk*innen, stimmten dafür, die angeschlagene Demokratie ihrer alten Heimat durch den Erdowahn zu ersetzen. Das kann mehrere Gründe haben.

Natürlich könnte man zunächst das Naheliegende vermuten. Menschen, die selbst in einer Demokratie leben, wollen Menschen eines anderen Landes in eine Tyrannei zwingen? Sind vielleicht einfach nur doof und gemein? Oder sie arbeiten für die CIA?
Dem muss man aber zuerst entgegenhalten, dass im Uneinigen Königreich von Groß-Brexitanien und bald nimmer Nordirland nur 15% der türkischen Diaspora ihren fernen Verwandten die Diktatur an den Hals wünschten. Während der Rest im Nordwest der EU – außer Schweden – mehrheitlich mit „Evet“ antwortete, sagten die größten Städte der Türkei wiederum „Hayir“. Wie bei anderen jüngeren Katastrophen, fiel das Ergebnis verdammt knapp aus.

Wie lebt man Demokratie (vor)?

Es ist auch nicht klar, wie viele (illegale) Doppelstaatsbürger*innen es bei uns gibt. Uns Österreicher*innen ist meist auch nicht klar, welches Leben jene Landsleute führen, die rechtlich immer noch Türk*innen sind. Vielleicht kommen sie überhaupt nicht in den Genuss der Vorteile unserer Demokratie. Korruption gibt es schließlich auch hier (ebenso unabhängig von diversen Wahlen). Vielleicht profitieren auch einzelne austrotürkische Geschäftsleute von der politischen Diskrepanz zwischen den beiden Staaten.

Das ist kein türkischer Trend. Das ist ein internationales Muster. Stadtluft macht frei und seine Bewohner*innen wollen meist, dass es so bleibt. Allerdings nur dann, wenn sie diese Freiheit auch (miter)leben können; wenn sie beispielsweise nicht nur vom Job-, sondern auch vom Kultur- und Bildungsangebot profitieren. Jene Gruppen, die in diesem Reichtum niemals ankommen, die froh sind, es nur finanziell irgendwie zu „etwas“ gebracht zu haben und die daraus keinen Wert der Demokratie ableiten können, wählen unter gewissen Umständen gegen Demokratie oder Liberalität.
Die britischen Globalisierungsverlierer, die glauben, ohne EU-Regulierung würde wieder Schwerindustrie aus den alten Minen wachsen. Die russischen Auswandererinnen im ansonsten demokratischen New York, die Trump wählen, weil er sie an die Oligarchen der alte Heimat erinnert. Die Türk*innen, die sich über das Ende einer Freiheit freuen, die ihnen durch familiäre Traditionen und ökonomische Realitäten ohnehin verwehrt blieb...

Sie alle spiegeln sich im Rechtspopulismus der europäischen Demokratien wieder. Erdogans Krönung zum Alleinsultan ist der feuchte Traum vieler, auch bei uns das alte Spiel des völkischen, nationalistischen oder religiösen Größenwahns spielen wollen. Sie glauben, wieder „wer“ zu sein, wenn wir nichts mehr sind, außer der kranken Fantasie eines großen, starken Übermenschen. Auch schon fad.

Europas "Werte" müssen Wahrheit sein

Wie will sich die EU demgegenüber verhalten? Der „demokratisch“ gewählte Trump feuert um sich, um die innenpolitische Kritik nicht mehr hören zu müssen. Die Rüstungsindustrie freut sich. Assad und dem IS stecken den kostspielige Effekt relativ leicht weg. Währenddessen läuft uns ausgerechnet das antidemokratische China in allen wichtigen Fragen der globalen Zukunft auf und davon. Das sieht nicht gut aus. Nicht für unsere Demokratien. Weil was ist der Sinn des Ganzen?

Wie kann Europa den Wert seiner Freiheit verkaufen, wenn es allmählich von der Realität eines überbevölkerten Planeten eingeholt wird? Ich kann darauf auch keine unmittelbare, einfache Antwort geben. Aber ich weiß, dass sture Ignoranz, Hass, Gewalt und Größenwahn auf längere Sicht eher hinderlich sind.
Und wir alle wissen, dass uns der menschliche Geist erlaubt, alle anstehenden Probleme zu lösen – allerdings nur in einer Gemeinschaft, die über Volk, Nation und Religion hinausgeht. Die Europäische Union geht darüber hinaus. Aber sie muss vermitteln, dass sie die Probleme tatsächlich lösen will. Es gibt genug Schlauberger, die sich mit dem Aufrechterhalten unserer globalisierten Probleme einen fetten Lebensunterhalt einsacken. Nicht nur in der Türkei.

Die EU kann keine Glaubwürdigkeit durch schöne Worte gewinnen. Unsere Medien sind immer noch kritisch und frei. Sie muss daher Taten setzen. Europas „Werte“ - Humanismus, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit – müssen Wahrheit sein, wenn sie die Lügen antidemokratischer Tyrannen überwinden wollen.
Die Rechtspopulistinnen und Demagogen leben letztlich von einer unbeantworteten Frage, die sich viele Menschen stellen: Welchen Wert haben für mich persönlich und konkret diese „Europäischen Werte“? Die meisten Türk*innen im demokratischen Europa scheinen darauf auch keine Antwort gefunden zu haben.

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