Samstag, 17. Dezember 2016

Jahresrückblick 2016: Rechtspopos, Heimat, Christlichkeit

Wie Trevor Noah pointierte: „2016 begann mit Zika und wurde (erst) dann schlimm.“ Dieses Jahr blickt man ungern zurück. Es sei denn man gehört zum internationalen Waffenhandel oder zum verinternetzten Rechtspopolismus.

Letzterer bescherte uns Wahlkämpfe mit ungeahnten Tiefpunkten menschlicher Intelligenz und Würde. Er feierte gewaltige Erfolge, die immer noch schwer nachzuvollziehen sind. Mit Donald Trump fallen die letzten Hemmschwellen: Die korrupte Privatwirtschaft sitzt endlich direkt im korrumpierten Präsidentenamt. Endlich kann man auf den Lobbyismus dazwischen verzichten. Wird viele Krawatten arbeitslos machen. Auf die tollen Synergieeffekte, die dadurch freigesetzt werden, freut sich auch schon Vladimir Putin. Die auch durch das Brexit geschwächte EU wird ihm bald weniger auf die Nerven gehen. Vor allem, wenn die AfD bei den nächsten Wahlen gewinnen würde.


"Mein Wort-Schatz!"

Eigentlich seltsam: In all diesen Fällen wählen Menschen, die Angst vor Statusverlust haben, dessen Abschaffung. So wie man immer gleich "weniger Staat" fordert, wenn er einen Fehler hat. Die "Alternative für Deutschland" ist schon als Name ein grammatikalischer Fehler. Sie stößt sich dermaßen am deutschen Grundrecht, es müsste "Alternative zu Deutschland" heißen. Sie und andere Rechtspopos verteidigen die "Heimat" als persönlichen Wort-Schatz wie Gollum den einen Ring. Mit Heimat meint sie die eigenen vier Wände ihrer Meinungs-Höhle, dort wo „Normalität“ herrsche, egal wie kalt und dunkel sie ist. Und wehe „dreckige, kleine Hobbitse“ „stehlen“ ihren Wort-Schatz... Dann fliegen die Hasspostings!
Wahrscheinlich verstehen wir unter Heimat alle etwas anderes und doch immer das Gleiche, wenn wir nicht gerade vom gemeinsamen Land, dem gemeinsamen Staat sprechen? Versucht man diesen Begriff genauer zu beschreiben, besser, was er persönlich bedeute, kommt man vom hundertsten ins tausendste Detail.

Die Verteidigung des "christlichen Abendlandes" ist ähnlich verwirrend. Christlichkeit? Christentum? Was das sein soll, war unter Christ*innen in Europa bereits vor Luther ein Streitpunkt. Abgesehen von Friede, Frömmigkeit und Fandom. Früher fuhr bei solchen Streitigkeiten wenigstens noch die noch nicht erfundene Eisenbahn der katholischen Inquisition drüber.

Heute hingegen herrschen Religionsfreiheit und Säkularismus in lustiger Eintracht: Eine Errungenschaft der religionskritischen Aufklärung. Dank ihr dürfen FPÖ-Fans behaupten, die Kirche vor der Islamisierung retten zu wollen, in der sie sich nie blicken lassen; außer sie werden durch das mächtige Triptychon der heiligen Gesellschaftspflichten – Taufe, Hochzeit, Beerdigung – hinein beschworen. Das hat man nun von Freiheit und Multikulti.

Warum wollen also ausgerechnet „Freiheitliche“ die "christlichen Werte" verteidigen? Das Gegenteil von Islamisierung ist schließlich nicht Christianisierung. Das Gegenteil von Islamismus ist der säkulare Rechtsstaat. Den haben wir bereits. Könnte man auch verteidigen. Aber damit lässt sich halt nicht gut reimen. Es klingt auch nicht so knackig und dramatisch in der stets bedrohten Heimat.

Meine Heimat

Heimat: Wenn ich dieses Wort denke, taucht immer das selbe, erste Bild auf. Der Blick aus den Fenstern meiner Elternwohnung. Er geht nach Westen, vorbei am Untersberg, dorthin, wo der Staufen mit seinem Wolkenkranz aussieht wie ein mächtiger Vulkankegel; wo die Sonne neben dem ebenfalls bayrischen Högl untergeht, in deren Tiefenlicht sich das Alpenvorland ausbreitet. Das sah mir früher nach großer, weiter Welt aus, von der ich nicht immer wusste, dass sie Deutschland hieß (Tschuldigung! Bayern natürlich); von der ich träumte, kurz bevor ich ins Bett geschickt wurde.

Meine Fremde

Dieses Bild ist Heimat für mich. Es hat zwei Hauptkomponenten: Das Nahe, Vertraute, das durch eine üppige Baumreihe – hauptsächlich aus Eichen und Buchen – begrenzt wird, unter der sich auch heute noch der Spielplatz befindet. Und das Ferne, Unbekannte, das im wahrsten Sinne über die eigene Grenze hinaus geht.
Das Fremde ist immer ein Teil des Eigenen. Manche fürchten sich davor. Andere macht es neugierig. Würde ich Heimat verteidigen wollen, müsste ich mich schützend vor den Stadtrand stellen, vor Wälder, Berge, Landschaften. Aber in den Vororten herrschen als einzige Gefahren rutschige Stiegenhäuser. Und das Landschaftsschutzgebiet wird höchstens von einheimischen Geschäftsleuten bedroht, die ihre hässlichen Bauklötze hineinstellen wollen.

Meine "christlichen" Werte

Auch ein Teil meines Heimatgefühls ist das Christliche, obwohl ich mein „röm.kath. durch ein „o.b.“ ersetzte. Man muss nicht sonderlich gläubig sein, um sich auf Weihnachten zu freuen. Auch Ausgetretene singen Weihnachtslieder, wenn auch heimlich. Ich hatte keine Ahnung von der Liturgie, stand dennoch Ministrant herum. Ich fand die Darstellungen an den Kirchendecken, dazu den muffigen Weihrauchgeruch unheimlich, sang trotzdem als Domkapellknabe. Ich spielte bei der Jugendtheratergruppe meines Pfarrers mit und reiste nach Taizé. Im Wohnzimmer meiner Eltern steht immer noch eine Madonna aus Holz, obwohl die Beiden noch weniger religiös sind als ich.

Meine Identität

Das Christentum ist eben nicht nur Religion. Darauf zielen die Rechtspopulisten auch ab. Es ist ein Kulturgut, das man hierzulande als identitätsstiftenden Bestandteil mitgeliefert bekommt; selbst wenn ihn niemand bestellt hat. Auch wenn man Religion ideologisch ablehnt, trägt die Ablehnung zur Identitätsstiftung bei. So wie man sich die Baumreihen und Berge in der Abenddämmerung nicht aussuchen kann, die sich einem einprägen. Da kann ich nicht klagen. Ich lernte durch die Kirche(n) wunderbare Menschen kennen. Wie göttlich oder menschlich Jesus wirklich war, ist mir egal. Viele Gläubige sehen ihn quasi als humanistisches, sogar sozialistisches Vorbild – was auch immer tatsächlich nach ihm (ins Neue Testament) kam. Soll mir Recht sein, nur nicht Recht. Es ist auch wundervoll, zu erleben, wie leidenschaftlich Menschen von ihm sprechen, die wirklich an die Nächstenliebe und den Frieden glauben.

Meine Antichristen

Diese „christlichen Werte“ verteidige ich gerne. Es sind auch meine Werte, auch wenn ich ihre Quellen woanders orte. Aber vor wem sollte ich sie verteidigen? Vielleicht vor Ungläubigen, die Kindern zurufen, sie sollten wieder in den Krieg zurück verschwinden, aus dem sie flohen? Vor Hohepriestern und Landesfürsten, die sich auf keine gemeinsame Mindestsicherung einigen können, weil die, die wenig haben, nicht genauso viel bekommen sollen müssen, wie die, die noch weniger haben? Vor Stadthaltern, die das Betteln verbieten wollen, aber genug Geld für falsche Propheten in den Medien übrig haben?
Das klingt nach verdammt viel Arbeit. Vielleicht versuch ich's auch einmal Hasspostings. Das wird mein Neujahrsvorsatz. Ich wünsche ein frohes Fresst... Fest (freudscher Verschreiber)!

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