Donnerstag, 5. Mai 2016

Fremdartigkeit und Verbrechen: Trügerische Realität, trügerische Sicherheit

Die letzten Diskussionen im Kommentarbereich bieten genug Stoff für neue Artikel. Dabei ging es vor allem um den Begriff Realität. Gerade wenn man sich mit ihm befasst, erkennt man bald: Was von uns allen als selbstverständlich geglaubt wird, ist niemals von (sich, des Dinges/Begriffes, aus) selbst verständlich oder verstehbar.

Es handelt sich hierbei um die längere Version eines Artikels, der auch auf Fisch und Fleisch.

Wahrnehmung

Den neuen Falter hätte ich wegen eines Absatzes beinahe in die Traffik zurück gebracht. Erbehblicher Mangel! Hatte ihn allerdings bereits beschädigt. Laut Franz Kössler - einem intelligenten Menschen - würde die Economic Intelligence Unit eine überzeugende "Diagnose" zu Europas Krisen liefern. Zitat aus der Falter-Kolumne: "Sie sieht Europa im Würgegriff der Migrationskrise, des drohenden Brexit, der wiederkehrenden Eurokrise um Griechenland, sinkender Produktivitätsraten der europäischen Wirtschaft und der schwelenden Konfrontation mit Russland." Viel mehr “Diagnose” folgt nicht, abgesehen vom offensichtlichen Krisen-Wahlverhalten.

Angenommen ich gehe wegen Schnupfen zum Arzt und dieser erklärt mir nach eingehender Untersuchung: "Diagnose: Schnupfen." Erheblicher Mangel! Das, was hier als Diagnose, als Feststellung der Symptom-Ursache festgestellt wurde ist nur die Wahrnehmung einer Erscheinung. Nicht nur fehlt hier die Ursache, sondern auch die tatsächliche Wirkung. Schnupfen bzw. Brexit-"Drohung" (oder Versprechen) und Eurokrise sind nur die oberflächlichen Erscheinungsbilder mehrerer, gleichzeitiger Ursachen.

Auch in der Debatte um "Willkommens- oder Zaunkultur" taucht dieser Irrtum auf. Jede_r negativ erscheinende Fremdartige wird wie ein Beweis für die generelle Schlechtigkeit der Gegenwärtigkeit fremdartiger Menschen (wenn nicht fremdartiger Menschen ansich) betrachtet, selbst wenn sich diese in einem persönlich nicht erfahrbaren Raum – z.B. dem zweitgrößten österreichischen Asylheim mitten in Wien, das bisher niemanden auffiel – bewegen.
Umgekehrt neigen Gutmenschen (wie ich) dazu, alle freundlichen, höflichen, zuvorkommenden Fremden in der Straßenbahn wie einen Beweis anzuführen, dass das gesamte “Schlechtmenschen”-Lager mit jedem seiner Vorurteile unrecht hätte. Erheblicher Mangel!

Selbstkritik

Florian Klenk – von mir sehr geschätzter Chefredakteur des Falters – postet auf Facebook eine Warnung an die (Stadt-)Politik angesichts der Probleme bei Praterstern und Brunnenmarkt, nachdem letzterer nun Schauplatz eines Mordes wurde. Ich erkenne einerseits meinen gutmenschlichen Bobo-Reflex, diese Meldung als Angstmacherei abzutun. Schließlich würde ich täglich in besagten Gegenden verkehren und mir wäre noch nichts Schlimmes aufgefallen.

Allerdings bin ich ein ausgewachsener Mann (meist in Eile) und habe daher vermutlich nicht die selbe Wahrnehmung wie verängstigte Schulkinder oder belästigte Frauen. Zugleich stelle ich andererseits fest, dass ich, mit der Nachricht eines anscheinend grundlos mordenden Kenianers, einsame afrikanische Männer sofort mit anderen, skeptischeren, wachsameren Augen betrachte: Die Augen eines Mannes, der Familie in einer der betroffenen Gegenden hat. Eine notwendig fokusierte, aber daher beschränkte Wahrnehmung: Ein erheblicher Mangel!

Sehe ich über sie (über mich selbst) hinweg, erkenne ich, dass sich Klenk journalistisch-vorbildlich verhält. Er geht zunächst nicht auf die Fremdartigkeit gewisser Personen ein, sondern lediglich auf Taten - “erschlagen”, “bedrängt”, “vergewaltigt” - oder auch Zustand - “Drogenkranke”. Seine Begriffe sind eindeutig und selbst-verständlich. Während Begriffe wie Kultur, Herkunft oder Sprache, mit denen Fremdartigkeit ausstaffiert wird, mehrdeutig und nicht von sich selbst aus verständlich sind.

Dennoch erzeugt sein vorläufiger Bericht in mir die Angst, dass dieser den Fremdenhass verstärken könnte. Daher kommt mein zunächst heimlich ablehnender Reflex: Nicht aus böser Absicht, die mir rechte “Schlechtmenschen” unterstellen würden, sondern aus Angst vor den bösen Absichten, die ich ihnen unterstelle.

Realität


Dafür habe ich gute, aber schlechte Gründe, wie u.a. Debatten auf Fisch und Fleisch zeigen. Man stürzt sich auf die Probleme am Praterstern. Diese liefern eine zeitlich und räumlich eingeschränkte Wahrnehmung, einen Ausschnitt der “Realität”, der gewissen Personen zum Vorurteil passt. Ebenso beschränkt man sich auf die Kölner Silvesternacht, um alles, was abseits davon die eigene “Realität” stören würde, auszublenden. Das ist, als würde man sich auf sämtliche Kettenraucher_innen beschränken, die ein hohes Alter erreichten, um beweisen zu wollen, dass Rauchen gesund ist.

So verfahren “Schlechtmenschen” wie “Gutmenschen”. Es ist jetzt unwichtig, was die Absicht dahinter ist. Sie picken sich entweder die Vergewaltiger oder die Helden aus der Masse der Fremdartigen. Aber beide gibt es. Deshalb sollte sich Mensch nicht auf seine Selbstverständlichkeit – sein mit sich selbst alleine gelassenes Verstehenwollen – beschränken. Mensch ist auch im Denken nicht zum Alleinsein gemacht. “Wo der Egoismus beginnt, da gelten die Gesetze der Logik nicht mehr (Ludwig Feuerbach).”

Aber: “Ich denke, also bin ich”, sagt Descartes. Und wie das Denken unsere Selbsterkenntnis formt, so formt es auch unsere Wahrnehmung der “Realität”. Wenn wir isoliert von einander denken, schaffen wir jeweilige “Realitäten” und keine von ihnen ist echte Realität.

Zusammenhänge

Abgesehen davon sind alle noch so realistischen Einzelwahrnehmungen nutzlos, wenn man keine kausalen Zusammenhänge zwischen ihnen erkennen kann. Das gilt für Schnupfen wie für Kriminalität und Politik. Unser Denken begrenzt oder erweitert unser Verständnis von der Realität. Festzustellen, dass am Praterstern Verbrechen mehrheitlich durch Ausländer über einen gewissen Zeitraum begangen werden, lässt keinen Schluss für ganz Österreich zu. Auch nicht wenn man andere Hotspots in Wien hinzuaddiert. Noch weniger kann es die gesamte Asylpolitik betreffen.

Die teils beabsichtigte (Selbt-)Beschränktheit, mit der man schlussfolgert, dass man weniger (oder keinen) Flüchtlingen (im Speziellen) helfen müsse, um Kriminalität (im Allgemeinen) zu bekämpfen, ist eine Selbsttäuschung – und selbstschädigend. Wer die Gründe und das Wesen einer Gefahr, z.B. des Schnupfens, nicht kennt, wer nicht weiß, warum, wie und was, sondern nur, dass die Nase rinnt, kann sich nicht schützen. Erheblicher Mangel! Daher muss Sicherheitspolitik über Fremdartigkeit hinausgehen.

Diverse Ursachen für Gewalt sind bekannt und universal auf die gesamte Menschheit anwendbar (so die Kurzfassung). Diese Ursachen allein auf die einzelne Fremdartigkeit in Herkunft, Kultur, Religion oder Sprache zu projezieren, macht blind – auch für die “eigenen” Gewaltursachen, die auch der Vertrautheit des “christlichen Abendlandes” entspringen können. Deshalb sollte man auch keine fremdenpolizeilichen, asylverschärfenden, migrationspräventive Maßnahmen für mehr Sicherheit fordern, sondern lediglich polizeiliche, verschärfende, präventive. Der Gewalttäter im fremdartigen Menschen macht ihn gewalttätig, nicht der für uns Fremde in ihm.

Die bleibende Frage


Das können sicher alle (selbst) verstehen. Nicht alle wollen. Letztlich bleibt die Frage unserer Krisenzeit simpel und die selbe Frage wie zu allen Zeiten: Wollen wir menschlich denken und handeln?
Wollen wir helfen? Den Opfern und potenziellen Täter_innen, egal woher sie stammen? Oder nehmen wir sowohl Opfer als auch Täter_innen als Repräsentat_innen vielfältiger Armut wahr; und die Armut immer nur als Gegensatz und Gefährdung unseres Reichtums? Und versuchen wir deshalb einen Grenzzaun um unsere Wahrnehmung zu bauen, damit uns andere nicht beim Erdenken unserer Realität stören? Und beschränken wir unser menschliches Denken und Handeln gegenüber allen und allem Fremdartigen, weil wir es können? Bis diese Beschränktheit uns alle und alles, und uns selbst fremd werden lässt? Erheblicher Mangel!


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