Die letzten Diskussionen im Kommentarbereich
bieten genug Stoff für neue Artikel. Dabei ging es vor allem um den
Begriff Realität. Gerade wenn man sich mit ihm befasst, erkennt man
bald: Was von uns allen als selbstverständlich geglaubt wird, ist
niemals von (sich, des Dinges/Begriffes, aus) selbst verständlich
oder verstehbar.
Es handelt sich hierbei um die längere Version eines Artikels, der auch auf Fisch und Fleisch.
Wahrnehmung
Den neuen Falter hätte ich wegen eines Absatzes
beinahe in die Traffik zurück gebracht. Erbehblicher Mangel! Hatte
ihn allerdings bereits beschädigt. Laut Franz Kössler - einem
intelligenten Menschen - würde die Economic Intelligence Unit eine
überzeugende "Diagnose" zu Europas Krisen liefern. Zitat
aus der Falter-Kolumne: "Sie sieht Europa im Würgegriff der
Migrationskrise, des drohenden Brexit, der wiederkehrenden Eurokrise
um Griechenland, sinkender Produktivitätsraten der europäischen
Wirtschaft und der schwelenden Konfrontation mit Russland." Viel
mehr “Diagnose” folgt nicht, abgesehen vom offensichtlichen
Krisen-Wahlverhalten.
Angenommen ich gehe wegen Schnupfen zum Arzt und
dieser erklärt mir nach eingehender Untersuchung: "Diagnose:
Schnupfen." Erheblicher Mangel! Das, was hier als Diagnose, als
Feststellung der Symptom-Ursache festgestellt wurde ist nur die
Wahrnehmung einer Erscheinung. Nicht nur fehlt hier die Ursache,
sondern auch die tatsächliche Wirkung. Schnupfen bzw.
Brexit-"Drohung" (oder Versprechen) und Eurokrise sind nur
die oberflächlichen Erscheinungsbilder mehrerer, gleichzeitiger
Ursachen.
Auch in der Debatte um "Willkommens- oder
Zaunkultur" taucht dieser Irrtum auf. Jede_r negativ
erscheinende Fremdartige wird wie ein Beweis für die generelle
Schlechtigkeit der Gegenwärtigkeit fremdartiger Menschen (wenn nicht
fremdartiger Menschen ansich) betrachtet, selbst wenn sich diese in
einem persönlich nicht erfahrbaren Raum – z.B. dem zweitgrößten
österreichischen Asylheim mitten in Wien, das bisher niemanden
auffiel – bewegen.
Umgekehrt neigen Gutmenschen (wie ich) dazu,
alle freundlichen, höflichen, zuvorkommenden Fremden in der
Straßenbahn wie einen Beweis anzuführen, dass das gesamte
“Schlechtmenschen”-Lager mit jedem seiner Vorurteile unrecht
hätte.
Erheblicher Mangel!
Selbstkritik
Florian Klenk – von mir sehr geschätzter
Chefredakteur des Falters – postet auf Facebook eine Warnung an die
(Stadt-)Politik angesichts der Probleme bei Praterstern und
Brunnenmarkt, nachdem letzterer nun Schauplatz eines Mordes wurde.
Ich erkenne einerseits meinen gutmenschlichen Bobo-Reflex, diese
Meldung als Angstmacherei abzutun. Schließlich würde ich täglich
in besagten Gegenden verkehren und mir wäre noch nichts Schlimmes
aufgefallen.
Allerdings bin ich ein ausgewachsener Mann
(meist in Eile) und habe daher vermutlich nicht die selbe Wahrnehmung
wie verängstigte Schulkinder oder belästigte Frauen. Zugleich
stelle ich andererseits fest, dass ich, mit der Nachricht eines
anscheinend grundlos mordenden Kenianers, einsame afrikanische Männer
sofort mit anderen, skeptischeren, wachsameren Augen betrachte: Die
Augen eines Mannes, der Familie in einer der betroffenen Gegenden
hat. Eine notwendig fokusierte, aber daher beschränkte Wahrnehmung:
Ein erheblicher Mangel!
Sehe ich über sie (über mich selbst) hinweg,
erkenne ich, dass sich Klenk journalistisch-vorbildlich verhält. Er
geht zunächst nicht auf die Fremdartigkeit gewisser Personen ein,
sondern lediglich auf Taten - “erschlagen”, “bedrängt”,
“vergewaltigt” - oder auch Zustand - “Drogenkranke”. Seine
Begriffe sind eindeutig und selbst-verständlich. Während Begriffe
wie Kultur, Herkunft oder Sprache, mit denen Fremdartigkeit
ausstaffiert wird, mehrdeutig und nicht von sich selbst aus
verständlich sind.
Dennoch erzeugt sein vorläufiger Bericht in mir
die Angst, dass dieser den Fremdenhass verstärken könnte. Daher
kommt mein zunächst heimlich ablehnender Reflex: Nicht aus böser
Absicht, die mir rechte “Schlechtmenschen” unterstellen würden,
sondern aus Angst vor den bösen Absichten, die ich ihnen
unterstelle.
Realität
Dafür habe ich gute, aber schlechte Gründe,
wie u.a. Debatten auf Fisch und Fleisch zeigen. Man stürzt sich auf
die Probleme am Praterstern. Diese liefern eine zeitlich und räumlich
eingeschränkte Wahrnehmung, einen Ausschnitt der “Realität”,
der gewissen Personen zum Vorurteil passt. Ebenso beschränkt man
sich auf die Kölner Silvesternacht, um alles, was abseits davon die
eigene “Realität” stören würde, auszublenden. Das ist, als
würde man sich auf sämtliche Kettenraucher_innen beschränken, die
ein hohes Alter erreichten, um beweisen zu wollen, dass Rauchen
gesund ist.
So verfahren “Schlechtmenschen” wie
“Gutmenschen”. Es ist jetzt unwichtig, was die Absicht dahinter
ist. Sie picken sich entweder die Vergewaltiger oder die Helden aus
der Masse der Fremdartigen. Aber beide gibt es. Deshalb sollte sich
Mensch nicht auf seine Selbstverständlichkeit – sein mit sich
selbst alleine gelassenes Verstehenwollen – beschränken. Mensch
ist auch im Denken nicht zum Alleinsein gemacht. “Wo der Egoismus
beginnt, da gelten die Gesetze der Logik nicht mehr (Ludwig
Feuerbach).”
Aber: “Ich denke, also bin ich”, sagt
Descartes. Und wie das Denken unsere Selbsterkenntnis formt, so formt
es auch unsere Wahrnehmung der “Realität”. Wenn wir isoliert von
einander denken, schaffen wir jeweilige “Realitäten” und keine
von ihnen ist echte Realität.
Zusammenhänge
Abgesehen davon sind alle noch so realistischen
Einzelwahrnehmungen nutzlos, wenn man keine kausalen Zusammenhänge
zwischen ihnen erkennen kann. Das gilt für Schnupfen wie für
Kriminalität und Politik. Unser Denken begrenzt oder erweitert unser
Verständnis von der Realität. Festzustellen, dass am Praterstern
Verbrechen mehrheitlich durch Ausländer über einen gewissen
Zeitraum begangen werden, lässt keinen Schluss für ganz Österreich
zu. Auch nicht wenn man andere Hotspots in Wien hinzuaddiert. Noch
weniger kann es die gesamte Asylpolitik betreffen.
Die teils beabsichtigte (Selbt-)Beschränktheit,
mit der man schlussfolgert, dass man weniger (oder keinen)
Flüchtlingen (im Speziellen) helfen müsse, um Kriminalität (im
Allgemeinen) zu bekämpfen, ist eine Selbsttäuschung – und
selbstschädigend. Wer die Gründe und das Wesen einer Gefahr, z.B.
des Schnupfens, nicht kennt, wer nicht weiß, warum, wie und was,
sondern nur, dass die Nase rinnt, kann sich nicht schützen.
Erheblicher Mangel! Daher muss Sicherheitspolitik über
Fremdartigkeit hinausgehen.
Diverse Ursachen für Gewalt sind bekannt und
universal auf die gesamte Menschheit anwendbar (so die Kurzfassung).
Diese Ursachen allein auf die einzelne Fremdartigkeit in Herkunft,
Kultur, Religion oder Sprache zu projezieren, macht blind – auch
für die “eigenen” Gewaltursachen, die auch der Vertrautheit des
“christlichen Abendlandes” entspringen können. Deshalb sollte
man auch keine fremdenpolizeilichen, asylverschärfenden,
migrationspräventive Maßnahmen für mehr Sicherheit fordern,
sondern lediglich polizeiliche, verschärfende, präventive. Der
Gewalttäter im fremdartigen Menschen macht ihn gewalttätig, nicht
der für uns Fremde in ihm.
Die bleibende Frage
Das können sicher alle (selbst) verstehen.
Nicht alle wollen. Letztlich bleibt die Frage unserer Krisenzeit
simpel und die selbe Frage wie zu allen Zeiten: Wollen wir menschlich
denken und handeln?
Wollen wir helfen? Den Opfern und potenziellen
Täter_innen, egal woher sie stammen? Oder nehmen wir sowohl Opfer
als auch Täter_innen als Repräsentat_innen vielfältiger Armut
wahr; und die Armut immer nur als Gegensatz und Gefährdung unseres
Reichtums? Und versuchen wir deshalb einen Grenzzaun um unsere
Wahrnehmung zu bauen, damit uns andere nicht beim Erdenken unserer
Realität stören? Und beschränken wir unser menschliches Denken und
Handeln gegenüber allen und allem Fremdartigen, weil wir es können?
Bis diese Beschränktheit uns alle und alles, und uns selbst fremd
werden lässt? Erheblicher Mangel!
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