Donnerstag, 21. Februar 2008

Lokalaugenschein zu Vladimir Sorokins Lesung in Wien - Oder: Der Bildungspöbel (sorgt für meine Enttäuschung und Unfreundlichkeit)

Gestern trafen sich Vladimir Sorokin und Erich Klein in der Hauptbücherei Wien, um das Buch des ersterwähnten, "Der Tag des Opritschniks", vorzustellen, zu besprechen und auf Fragen des Publikums einzugehen.

Die Veranstaltung war recht interessant, Herr Sorokin in seiner Muttersprache zu hören, ein wahrer Ohrengenuss und die Hitze des mit Menschen angefüllten Raumes auch erträglich, nachdem die hintere Wand, dank der praktischen Raumarchitektur, einfach weg gefaltet wurde.
Doch obwohl Vladimir Sorokin im Mittelpunkt seiner Lesung stand, waren die eindrucksvollsten Erfahrungen, die mir dort gegeben wurden, den Zuhörern zu verdanken.

Zweierlei Erkenntnisse vertieften sich an diesem Abend in mir:
1. Offenbar gebildete, jedenfalls belesene Menschen verhalten sich bei größeren Zusammenkünften mit Unbekannten ihrer Bildungsschicht und Interessensgruppe, nicht anders, als Menschen irgendeiner anderen Gruppierung. Sie verwenden vielleicht eine andere Sprache oder eine andere Ausdrucksweise, das Verhalten - und der Zweck den es verrät - sind bei genauerem Hinsehen jedoch nicht verschieden. Eitelkeit, Neid und Egoismus lassen sich selbst durch eine gute Kinderstube nicht völlig verstecken und schlechte Angewohnheiten – wie das Vergessen auf eine grundlegende Höflichkeit, als Zeichen des Respekts vor den Mitmenschen – brechen durch die Fassade des zivilisierten Bildungskulturmenschen, wie die verkrampfte Wut angesichts besetzter Sesselreihen; wie die Arroganz im unnatürlich röchelnden Lachen, über die unbefangene Offenheit eines Nächsten. Ich kenne ländliche Stammtischumtrunke, die bei weitem zivilisierter abliefen. Wahrlich, wer solche Bildungsmenschen hat, braucht keine Barbaren mehr.

2. Offenbar waren es Patrioten, die Russland mit Regime-Land verwechseln und welche die letzten drei Fragen an den Schriftsteller (auf Russisch) stellten, da dieser daraufhin den Abend beenden wollte – woraufhin der Sturmlauf zum Rednertisch hin erfolgte. Auch dabei war kein Unterschied zu spontan eröffneten Autogrammstunden von Fußballstars erkennbar.
Jedenfalls bewiesen die vorletzten beiden Fragesteller – wie kritisch sie Sorokin auch gegenüberstanden – dass Bildung nicht gleich Klugheit ergibt.


Zwar verehre ich Platon, doch behaupte ich nicht, dass in Russland eine Demokratie herrscht, nur weil der große Philosoph der Antike meinte, dass auf die Oligarchie, als Nachfolge von Tyrannei, eine Demokratie entstehen müsste. Außerdem bin ich nicht davon überzeugt, dass die russischen Oligarchen eine Erfindung Sorokins sind, was ihn zum einzig dem Frager bekannten Oligarchen machen würde.

Der Autor lies noch ein Frage zu und eine etwas emotional aufgerührt wirkende Dame wollte wissen, ob es denn etwas an Russland gebe. Sorokin antwortete, dass es neben sehr viel Schnee, den er liebt, vor allem noch geistiges Kapital in Russland gebe. Ob dies allein ausreicht, die Situation in der Pseudodemokratie zu ändern, bedenkt man, dass die Störenfriede in der Verkleidung vermeintlich geistiger Kritiker – die vom Befragten entsprechend nicht ernst genommen wurden – sicher nicht nur bei Lesungen in Wien auftauchen? Bedenkt man weiterhin, dass selbst jene, die sich für die Thematik zu interessieren scheinen, immer noch in der Vorlesung ersten Semesters sitzen, spät pubertierend und gerade erst von der Maturareise heimgekehrt – zumindest am Verhalten gemessen (oder ist diese Zeit, in der ein gewisses Gespür für das Miteinander, den überfüllten Hörsaal erst erlebbar machen, für einige zu lange her?) – so ist verständlich, dass eine positive Veränderung der (russischen) Gesellschaft nicht allein durch den Bildungspöbel erreichbar ist.

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