Dienstag, 3. Juli 2007

Entzugserscheinungen

Es ist nun schon lange, lange her, seit ich das MMORPG World of Warcraft aufgab - etwa 48 Stunden - und immer noch leide ich unter Entzugserscheinungen.

Zum Beispiel träumte ich letzte Nacht von seltsamen alten Greisen, deren kleine Zimmerchen voll gestellt waren, mit World of Wacraft Accessoires, haufenweise Tassen mit getrockneten Kaffeeresten, Aschenbecher, MousePads, Poster, Lampenschirme und Deckenventilatoren, auf denen sich in runenverzierten Rahmungen Nachtelfen und Orks rekelten.
Es stellte sich heraus, dass es sich bei den Greisen um die WoW-Zocker des Jahres 2070 handelte, die den moderneren Angeboten der Spiel-Industrie stand hielten und ihrem guten, alten Warcraft treu blieben.

Allerdings hatte die Herstellerfirma die letzten relevanten Updates und Addons vor 55 Jahren gebracht und war nicht mehr wirklich bemüht gewesen, die zahlreichen Spiel-Server ordentlich zu warten. Aufgrund der berechtigten Verzweiflung zahlreicher Level-90-Spieler, hatten sich diese entschlossen, eine Selbsthilfe-Organisation zu gründen. Private Server wurden aufgestellt, zu denen der Hersteller seinen Segen gab, damit die tausendfachen täglichen Anrufe frustrierter WoW-Veterane, die dauerhaft eine Erweiterung der Raumzeit-Lande forderten, endlich die Service-Leitungen frei machten.
Sodann begann man eigene Addons zu programmieren und das Spiel – geregelt durch den Rat der Spieler-Ältesten – nach eigenen Bedürfnissen zu erweitern. In dieser Zeit stieg die Scheidungsrate unter den verheirateten Spielern auf über 99,9 %.

Die maximal zu erreichende Stufe der Helden war mittlerweile auf 250 angestiegen. Niedrige Monster (LV 60 oder weniger) mussten von den Spielern nicht einmal mehr angegriffen werden, es genügte /niesen, /fingerschnipsen, /mitdenaugenrollen oder /handkuss in die Chat-Leiste einzugeben und das anvisierte Monster fiel in den virtuellen Tod und droppte seine Eingeweide. Diese bestanden nur noch aus kleinen Gag-Artikeln, wie Basilisken-Sonnenschirme, Drachen-Feuerzeuge, Brühschleimer-Modelier-Quark oder Harpyien-Gummipuppen.
Man hatte sich geeinigt, LV 250 als die absolute Spitze zu belassen. Die durchschnittliche Spielzeit, die für eine Stufe benötigt wurde, betrug ab LV 220 immerhin etwa 1 1/2 Jahre und es stand zu befürchten, dass einige Spieler weitere Maximalstufen-Anhebungen nicht mehr erleben würden.
Die Währung der World of Warcraft hatte sich ebenfalls weiterentwickelt. Gold war längst zu Kleingeld geworden und nachdem Platin- und Mithril-Münzen auch nichts mehr Wert waren, lies man die Gnome und Goblins das erste Kreditkartensystem Azeroths erfinden.

So saßen die greisen Digital-Helden in ihren Zimmerchen, an ihren Infusionen und Sauerstoffflaschen angeschlossen und mindestens die Hälfte der weltweit verstreuten Spieler erlitt vor Erregung einen Herzinfarkt, als ich mit einem Mal dem Spiel beitrat. Der letzte, übrig gebliebene Server, den sich mehrere Nationen teilten – mittlerweile sprach die ganze Welt Chinesisch – wurde jedenfalls mit einem Schlag zu 50% entlastet, als der erste Level 1 Spieler seit 50 Jahren im virtuellen Raum des Games auftauchte.
Sogar die Spieler der Horde – ich war an die Seite der Allianz getreten – versammelten sich fürsorglich um meinen Avatar, bereit mir nur irgendwie zu helfen (1).

Ich war die Abwechslung verschaffende Attraktion der letzten Jahrzehnte. Ein Ork-Paladin(2) wollte sich zwar erfrechen, mich immer wieder zu seinem Vergnügen anzuniesen, auf dass ich am nächsten Friedhof erwachte. Aber nach dem vierten oder fünften Mal - er näherte sich erneut mit verdächtigen Schritten und visierte mich an - hielt er überraschend inne und ging „Away from Keyboard„. Wie uns seine Krankenpflegerin über Chat später mitteilte, war er letztlich und ziemlich plötzlich, an seinen alten Leber- und Nierenleiden verstorben und hatte kurz davor, in freudiger Erregung mir einen Streich zu spielen und dafür 500 Ehrenpunkte(3) zu kassieren, einen Kreislaufzusammenbruch. Der Gute war auch schon 93 Jahre alt.

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1. Die Goblins hatten mittlerweile einen – Bubblefish genannten – Übersetzter konstruiert, weshalb man auch mit der jeweiligen Gegenseite kommunizieren konnte.

2. Es gab auch diesbezüglich einige Änderungen.


3. Auch gab es dämliche Änderungen und die Verwirrtheit unter den älteren Programmierern nahm mit den Jahren zu. Zudem rechnete niemand mehr damit, dass es je wieder einen Noob geben könnte.

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